„Nie wieder!“ und der Wunsch, nichts zu wissen

Ein aktueller Kommentar von Astrid Messerschmidt

Migration ist zu einem Platzhalter für alle möglichen Äußerungen der Unzufriedenheit, des Gefühls, zu kurz zu kommen und der Angst geworden. Europaweit sorgt das Thema für die Reaktivierung nationaler Identitätsbehauptungen. In Deutschland lässt sich das anhand der Umdeutung eines bedeutenden Topos beobachten. „Nie wieder!“ stand bis vor kurzem für die Abgrenzung von allem, was mit dem Nationalsozialismus in Verbindung steht und ist im Lauf der Zeit zu einer Formel der Selbstvergewisserung gemacht worden, so als sei das, wozu die zwei Worte aufrufen, bereits umgesetzt, so als gäbe es in der deutschen Gesellschaft und Politik tatsächlich nichts mehr von dem, was den NS ausmachte, keinen Rassismus, völkischen Nationalismus und schon gar keinen Antisemitismus.

In den letzten Jahren ist diesem Topos ein neuer Gegenstand zugeordnet worden, der dessen Bedeutung komplett umkehrt. „Nie wieder“ soll passieren, was 2015 passierte, nie wieder offene Grenzen, nie wieder Kontrollverlust, nie wieder Flüchtlinge und Asylsuchende, nie wieder so viele Fremde im Land. Das Thema Migration ist im Zuge dessen als Sicherheitsproblem besetzt worden und dient neo-nationalistischen Gruppierungen als Garant für Zustimmung in den dafür ansprechbaren Teilen der Öffentlichkeit. Migration kann als Signalwort gegen alles eingesetzt werden, was das vermeintlich Eigene bedroht, wozu Wohlstand, Kultur, Heimat, Sprache und Sicherheit gezählt werden. Migration und Flucht sind politisch gerahmt worden als Phänomene, die das Vertraute zerstören.[1]

Innerhalb dieser Rahmung kommt ein Motiv zum Ausdruck, das wiederum in enger Verbindung mit der gesellschaftlichen Beziehung zum Nationalsozialismus steht – der Wunsch nach Nichtwissen. In der familiären Kommunikation der Deutschen, die zu keiner der verfolgten Gruppen gehörten, ist über drei Generationen der Hinweis auf das Nichtwissen ein durchgängiges Muster der Unschuldsbeteuerung gewesen. Die Abwehr von Wissen schützt vor Verantwortung. Heute zeigt sich die Kontinuität dieser Abwehr in dem Mangel an Wissensvermittlung und Bewusstseinsbildung zu den Ursachen der großen weltweiten Fluchtbewegungen, die in ganz erheblichem Maße mit politischer Gewalt und daraus resultierenden Verarmungsprozessen zusammenhängen. Alles das kann jede und jeder wissen, zumal die Medien, die dieses Wissen transportieren, für alle zugänglich sind.

Das Bedürfnis nach Nichtwissen enthält zudem ein anti-intellektuelles Motiv, das allen rechtspopulistischen Bewegungen eigen ist und das zu den Elementen des Antisemitismus gehört. Niemand kann heute mehr glaubhaft behaupten, nichts wissen zu können. Die Zumutung des Wissens ist durch die digitalen Informationstechnologien gewachsen. Die Behauptung, nichts gewusst zu haben, hat sich erledigt, sie funktioniert nicht mehr und bietet keine Legitimation mehr. Unschuld im Sinne eines Unberührtseins von den Weltproblemen ist keine mögliche Option mehr. Jede_r kann wissen, was im Bürgerkriegsland Syrien geschieht und wie gefährlich es ist, dorthin zurückzukehren. Dass die Rückkehrenden vom Regime, das an der Macht bleiben wird, als Verräter betrachtet werden und dass sie deshalb nicht nur von den Machthabern, sondern auch von ihren Nachbarn bedroht werden, können alle wissen, die sich dafür interessieren. Jede_r kann wissen, wie viele Anschläge fast täglich in Afghanistan verübt werden und wie gefährlich es ist, dorthin zurückzukehren. Jede_r kann wissen, wie desolat die politischen Verhältnisse in vielen Ländern Mittelamerikas sind und welche Verelendungseffekte diese Verhältnisse für große Teile der Bevölkerungen haben. Jede_r kann wissen, wie grausam die Bürgerkriege in Zentralafrika sind und wie insbesondere Frauen und Kinder der eskalierenden Gewalt von Milizen ausgeliefert werden. Jede_r kann wissen, dass im Jemen aufgrund der Kriegshandlungen eine ganze Generation ohne ausreichende Ernährung und Schulbildung aufwächst. Die politisch bedingten Problemlagen der Welt stellen sich als ausgesprochen komplex dar, zugleich gibt es viele Möglichkeiten, diese Komplexität zu durchdringen und sich mehr Wissen und etwas Durchblick zu verschaffen.

Doch es ist schwierig, das Thema politische Gewalt in Fortbildungen zu verankern. Viele Lehrkräfte versprechen sich davon nichts für die Bewältigung ihres pädagogischen Alltags und wünschen sich eher Themen wie Sprachprobleme und kulturelle Unvereinbarkeiten. Die Vermutung, dass ein differenzierteres Wissen über die Ursachen von Flucht und Elendsmigration nichts bringt, ist Ausdruck einer Bildungsverweigerung bei denen, die Bildung vermitteln sollen. Die Beschränkung auf die vermeintlich wichtigeren, weil praktischen Fragen des Deutschlernens und des Umgehens mit kulturellen Differenzen verengt den eigenen Horizont auf die dominanten Themen des deutschen Integrationsdiskurses. Reproduziert wird dadurch das immer gleiche Muster der Identifikation von (Sprach-)Defiziten und kulturell problematischen Verhaltensweisen. Das Eigene bleibt davon unberührt, veränderungsbedürftig sind nur die Anderen, während das Dritte völlig ausgespart bleibt – nämlich die politischen und ökonomischen Verwerfungen, die zu massenhafter Auswanderung und Flucht veranlassen.

Es soll hier allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass viele in den Bildungsinstitutionen Migration und Flucht als relevante Tatsachen der Gegenwart anerkennen und entsprechend zeitgemäß handeln. Da dies aber ganz unaufgeregt geschieht, wird die Normalität des migrationsgesellschaftlichen Alltags in den Medien kaum repräsentiert, von einigen Ausnahmen abgesehen. Auch diese Auslassung verstärkt den auf Sicherheit und Anpassung setzenden Integrationsdiskurs, der zugleich den Bildungsaufstieg und die Karriereerfolge der Nachkommen vieler Arbeitsmigrant_innen ignoriert. Rücken die Geschichten des Aufstiegs in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, bieten sie wiederum Anlass für feindliche Reaktionen. Integration schützt eben nicht vor Hass.

In dem „Aufruf für solidarische Bildung“, der Ende 2015 von rassismuskritisch arbeitenden Erziehungswissenschaftler_innen an die Fachöffentlichkeit gerichtet worden ist, haben wir Migration und Flucht in Anknüpfung an Wolfgang Klafki zu den Schlüsselproblemen der Gegenwart gezählt und zu notwendigen Gegenständen für die Allgemeinbildung erklärt.[2] Wechselwirkungen von politischen Konfliktlagen und ökonomischer Ungleichheit sind in dem Aufruf als wesentliche Ursachen für den weltweiten Anstieg der Fluchtbewegungen angesprochen worden. Inzwischen hat sich die Zahl derer, die gezwungenermaßen ihre Länder verlassen und die sich größtenteils keineswegs in Europa befinden, stetig erhöht.[3] Nie wieder sollen Menschen an Grenzen scheitern und keinen geeigneten Ort für ein politisches und soziales Exil finden. Nie wieder soll sich eine Bevölkerung, die über Schulbildung verfügt, auf ihr Nichtwissen berufen, wenn Verfolgte und Notleidende einen sicheren Ort suchen. Wenig wäre gelernt worden aus dem Umgang mit der NS-Geschichte, wenn zugelassen wird, dass der Minimalkonsens einer Verhinderung von Massenmord im Namen der Reinheit eines national definierten Volkes umgedeutet wird zu einem Konsens, der Migration kriminalisiert und die Suche nach einem besseren und sicheren Leben für illegitim erklärt.

[1] Vgl. Elisabeth Wehling (2016): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht. Köln: edition medienpraxis.

[2] http://www.aufruf-fuer-solidarische-bildung.de/ (09.12.2018)

[3] „Die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute. Ende 2017 waren 68,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Im Vergleich dazu waren es ein Jahr zuvor 65,6 Millionen Menschen, vor zehn Jahren 37,5 Millionen Menschen. In Deutschland nahm die Zahl der Asylsuchenden im Vergleich zu 2016 hingegen deutlich ab. 85 Prozent der Flüchtlinge lebt in Entwicklungsländern.“ https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten/ (09.12.2018)